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Zum Umgang mit Wut in der menschlichen Interaktion

Wut ist ein stark negativer Affekt, häufig verbunden mit einer aggressiven Reaktion auf eine als unangemessen wahrgenommene Situation oder Handlung. Im System der atmosphärischen Führung stellt Wut ein repulsiv-dominantes Verhalten dar (vgl. Julmi/​​​Rappe 2018, S. 176), das auf die Durchsetzung der eigenen Perspektive abzielt. Wut ist mit dem deutlichen Wunsch behaftet, andere herabzusetzen und zu bestrafen, d.h., wütende Menschen suchen förmlich die Konfrontation und wollen anderen eine Lektion erteilen. Sofern keine Seite nachgibt, läuft Wut auf einen Machtkampf bzw. eine Eskalation hinaus (vgl. Berner 2015, S. 146-148).

Grundsätzlich ist Wut mit einigen negativen Effekten verbunden. Als repulsives Verhalten geht sie zu Lasten der Beziehung zum Gegenüber und vermindert Sympathie, also das attraktive Band zum anderen. Sie schürt Gegenwut und setzt negative Reziprozitätsspiralen in Gang. Sie schadet dem Vertrauen auf beiden Seiten und mündet häufig in festgefahrenen Situationen (vgl. Brooks 2016, S. 28). Auf der anderen Seite kann Wut gerade in festgefahrenen Situationen helfen, Bewegung in die Sache zu bringen und etwas zu verändern. Da Wut zudem in einem Unrechtsgefühl wurzelt, sollte sie immer auch ernst genommen werden. Kurz: Es ist kompliziert. Zeit also, sich mit dem Gefühl der Wut in der menschlichen Interaktion zu beschäftigen.


Wut als Unrechtsgefühl

Zunächst kann Wut als empfundenes Unrecht ein berechtigtes Gefühl sein, etwa wenn uns ein ungerechtes Verhalten verletzt oder wir uns ausgegrenzt fühlen. Dann haben wir allen Grund, wütend zu sein. Das Erleben von Wut kann in der Tat eine völlig gesunde Reaktion auf eine Situation sein und Gefühle der Sicherheit und Kontrolle auslösen (vgl. Fosslien/​​​Duffy 2023, S. 83). Dies ergibt aus Sicht der atmosphärischen Führung Sinn: Die Repulsion schafft eine spürbare Abgrenzung gegenüber dem anderen (Sicherheit), und die Dominanz sorgt dafür, dass wir unsere Perspektive als die maßgebliche und ‚richtige‘ empfinden (Kontrolle).

Hieraus folgt natürlich nicht, dass wir die Wut einfach an anderen auslassen sollten, zumal wir Wut nicht selten Menschen spüren lassen, die mit dem eigentlichen Grund für die Wut gar nichts zu tun haben, was uns häufig nicht einmal bewusst ist. Das Gefühl zu ignorieren oder zu verdrängen, ist allerdings auch keine gute Idee, weder für uns selbst noch für andere. Wer die eigene Wut zurückhält oder ignoriert, ist gegenüber anderen weniger achtsam und agiert weniger respektvoll und umsichtig wie in Momenten, in denen es einem gut geht (vgl. Porath 2023, S. 25).


Die Frage nach dem richtigen Umgang

Die Herausforderung besteht also darin, den richtigen Umgang mit der eigenen Wut zu finden. Wenn sich eine Kollegin über unsere guten Ideen lustig macht oder sich ein Kunde trotz guter Beratung unverschämt verhält, sind wir in einem echten Dilemma: Geben wir der Gegenseite Kontra, setzen wir schnell eine repulsiv-dominante Eskalationsspirale in Gang; reagieren wir dagegen passiv, müssen wir damit rechnen, dass die Gegenseite so weitermacht oder das eigene Schweigen sogar als repulsiv-subdominante Bestätigung der eigenen Perspektive ansieht (vgl. Gallo 2023, S. 32).

Doch wie sollen wir mit unserer Wut umgehen, wenn wir sie nicht an anderen auslassen sollen und Nichtstun auch keine Option ist? Soll man in Wut-Räumen (sog. ‚rage rooms‘) mit einem Baseball-Schläger Geschirr zerschlagen, bis sich die Wut gelegt hat? Zumindest aus wissenschaftlicher Sicht erscheint dies zweifelhaft und die Wut eher zu verstärken als zu lindern (vgl. Lohr u. a. 2007). Ein verstärkender Effekt auf die Wut ergibt sich aber auch, wenn wir in spezifischen Wut-Mustern festhängen, und wiederholt auf dieselben Auslöser mit derselben Wut reagieren. Dies wirkt sich nicht nur negativ auf uns selbst und die Menschen in unserem Umfeld aus, sondern ändert auch an der eigentlichen Ursache des Problems nichts.


Wenn hinter der Wut ein anderes Gefühl steckt

Hier liegt letztlich der Schlüssel im produktiven Umgang mit Wut: die Suche nach ihrer Ursache, ihrem Auslöser, ihrem Grund, der wie dargelegt eben auch ein ‚guter Grund‘ sein kann, aber nicht muss. Zum Beispiel kann hinter dem Gefühl der Wut eigentlich ein anderes Gefühl stecken. Oft es ist es die Angst, die hinter der Wut steckt. Wir fühlen uns allein gelassen und unsicher, oder wir haben das Gefühl, dass etwas schief geht oder uns etwas weggenommen wird. Verlustängste, Ohnmachtsgefühle, Unsicherheitsempfinden – all diese Gefühle der Angst können schnell in Wut umschlagen (vgl. Fosslien/​​​Duffy 2023, S. 83). Die Wut zu verstehen, heißt dann, die Angst zu verstehen; und die Wut zu bekämpfen entsprechend, die Angst zu bekämpfen. Neben Angst kann beispielsweise Trauer das eigentliche Gefühl hinter der Wut sein; bekanntlich ist Wut fester Bestandteil vieler Phasenmodell der Trauer.

Hinter Wut kann auch Stress stehen. Wenn Menschen chronisch gestresst sind, werden sie in der Regel auch schneller wütend; oft reichen schon Kleinigkeiten aus, die Fassung zu verlieren: schlechte Handy-Verbindung, eine dringende Mail kurz vor Feierabend oder die lange Schlange in der Kantine (vgl. Fosslien/​​​Duffy 2023, S. 83). Auch hier würde es nicht darum gehen, an der eigenen Wut zu arbeiten, sondern an dem dahinterstehenden Stress, der die eigentliche Ursache unserer Wut ist.


Wenn hinter der Wut eine andere Person steckt

Ebenso kann es eine bestimmte Person sein, die wiederholt unsere Wut ‚triggert‘, beispielsweise durch ein bestimmtes Verhaltensmuster. Dies kann ‚berechtigt‘ sein, etwa wenn der Chef uns anschreit oder wir permanent übergangen werden. Dann kann es helfen, mit dem Gegenüber das klärende Gespräch zu suchen und – möglichst ohne Wertung – darzulegen, dass wir in bestimmten Situationen wütend reagieren. Dafür sollte in jedem Fall ein passender Zeitpunkt gewählt werden, an dem die Wut größtenteils verraucht ist (vgl. Fosslien/​​​Duffy 2023, S. 84). Solange wir von der Wut als Atmosphäre ergriffen sind, hat sie uns sprichwörtlich ‚im Griff‘ und wir kommen aus den repulsiven Dominanz-Spielchen nicht heraus. In jedem Fall sollte man sich die Zeit nehmen, die eigene emotionale Reaktion zu reflektieren oder zumindest ein paar Mal tief durchzuatmen, wenn die Situation ein sofortiges Handeln erfordert (vgl. Gallo 2023, S. 32).

Bei einem klärenden Gespräch kann auf Ich- oder Es-Botschaften zurückgegriffen werden. Ich-Botschaften sind attraktiv-dominant, die sich gut attraktiv-subdominant einleiten lassen, um Verständnis zu signalisieren. Ihr Ziel ist es, dem Gegenüber die eigene Perspektive auf die Situation und die dabei ausgelösten Gefühle zu vermitteln (z. B. „Ich kann verstehen, dass Sie es mit Ihrer Botschaft nur gut gemeint haben. Aber mit dem Gesagten haben Sie mich verletzt“). Um einen echten Dialog in Gang zu setzen, können Ich-Botschaften mit attraktiv-subdominanten Aussagen ergänzt werden, die auch die Perspektive der anderen Seite gelten lässt (z. B. „Ja, das kann ich gut verstehen“). Es-Botschaften, auf der anderen Seite, sind repulsiv-dominant. Sie dienen dazu, Grenzen zu artikulieren, die die Gegenseite nicht überschreiten sollte (z. B. „Es ist respektlos, die Ideen anderer grundlos abzuwerten“). Insbesondere bei Es-Botschaften ist es wichtig, die Situation vorher zu reflektieren, um mit einer gewissen Distanz zu beurteilen, inwiefern die Gegenseite tatsächlich Grenzen überschritten hat. Du- und Sie-Botschaften wie „Du bist respektlos“ sollten dagegen vermieden werden, da sie sich konkret gegen die andere Person und nicht gegen ihr Verhalten richten und die Wahrscheinlichkeit verringern, dass die Gegenseite zuhört oder ihr Verhalten ändert. Sollte die Situation eskalieren, ist es zudem ratsam, einen Exit-Plan in der Hinterhand zu haben (z. B. „Lassen Sie uns eine Pause machen“), um die Situation abzukühlen (vgl. Gallo 2023, S. 35).

Die Ursache der Wut auf eine Person kann auch mit der Person gar nichts zu tun haben und sollte dann entsprechend auch nicht durch eine Konfrontation gelöst werden. Dies ist häufig der Fall, wenn uns die spezifische Eigenart eines Menschen regelrecht auf die Palme bringt, beispielsweise ein schleppender Gang, eine nasale Stimme oder ein ausweichendes Blickverhalten. Dann wiederum ist es ratsam, bei sich selbst auf Spurensuche zu gehen und sich zu fragen, weshalb dies so ist. Nicht selten liegen die Ursachen tief in der eigenen Vergangenheit begraben.


Wenn Wut Kräfte mobilisiert

Die eigene Wut zu verstehen, ist in jedem Fall der richtige Weg. Das heißt aber nicht, dass wir sie in jedem Fall bekämpfen müssen. Gerade dort, wo Wut wirklich berechtigt ist, kann sie Kräfte freisetzen und Überzeugungen mobilisieren, und zwar nicht nur bei uns selbst, sondern auch bei anderen. Martin Luther King, Mahatma Ghandi, Greta Thunberg – sie alle waren oder sind wütend und haben aus ihrer Wut die Kraft geschöpft, Missstände anzuprangern und andere zu mobilisieren, gegen sie anzugehen.

Wut kann also eine Superkraft sein, die eine Sogwirkung entfaltet, weil sie unter denjenigen, die sie teilen, ein attraktives Band spannen, das durch die Repulsion nach außen (also das, worauf die Wut gerichtet ist) sogar noch verstärkt wird. Dann wird Wut zu Mut, und in manchen Fällen zu einer ganzen Bewegung.


Wenn andere wütend sind

Wenn einen die Wut der anderen trifft, ist es ebenso wenig verkehrt, die Frage nach der Ursache zu stellen, unabhängig davon, ob wir für die Wut Verständnis haben oder nicht, ob sie uns kalt lässt oder uns zum Gegenschlag provoziert. So kann die Wut der anderen etwa mit kulturellen Unterschieden zusammenhängen. Während z. B. die Forderung, als Kunde einen Vorgesetzten sprechen zu wollen, in den Vereinigten Staaten als Affront gelten mag, ist dies in Ländern wie den Niederlanden oder Israel eher akzeptabel (vgl. Gallo 2023, S. 32). Als Fremder gegenüber Einheimischen, aber auch als Einheimischer gegenüber Fremden, ist es nicht verkehrt, die Wut anderer auf das eigene Verhalten zu reflektieren. Vielleicht ist die Wut des anderen ja doch verständlich.

Und noch was: Wenn wir die Wut anderer verurteilen, lohnt sich generell ein Blick in den eigenen Spiegel. Dann sehen wir vielleicht, dass wir in diesen Urteilen häufig alles andere als neutral, sondern voller Vor-Urteile sind. So zeigt die Forschung nicht nur, dass Wut bei Männern mit einem höheren Status assoziiert wird als bei Frauen, sondern auch, dass Wut bei Frauen primär auf innere Merkmale zurückgeführt wird (z. B. „sie ist eine wütende Person“, „sie ist außer Kontrolle“), während die Wut bei Männern eher äußeren Umstände zugeschrieben wird (vgl. Brescoll/​​​Uhlmann 2008, S. 268). Ähnlich verhält es sich mit dem Narrativ „Angry Black Woman“, das schwarze amerikanische Frauen als von Natur aus schlecht erzogen und schlecht gelaunt darstellt. Wer sich gegen solche Vorurteile wehrt, ist schnell in einem Teufelskreis, da die berechtigte Wut über das Vorurteil dieses letztlich bestätigt. Insofern kann es sich durchaus lohnen, auch der ‚Wut der anderen‘ auf die Spur zu kommen und dabei etwas über sich selbst zu lernen.


Literatur

Berner, Winfried: Change! 20 Fallstudien zu Sanierung, Turnaround, Prozessoptimierung, Reorganisation und Kulturveränderung, 2. Aufl., Stuttgart 2015

Brescoll, Victoria L./Uhlmann, Eric L.: Can an angry woman get ahead? Status conferral, gender, and expression of emotion in the workplace, in: Psychological Science 19 (3/2008), S. 268-275

Brooks, Alison W.: Verhandeln mit Gefühl, in: Harvard Business Manager 27 (2/2016), S. 22-31

Fosslien, Liz/Duffy, Molly W.: Wie Sie Wut nutzen, in: Harvard Business Manager 34 (2/2023), S. 82-84

Gallo, Amy: Das muss ich mir nicht anhören! In: Harvard Business Manager 34 (3/2023), S. 30-37

Julmi, Christian/Rappe, Guido: Atmosphärische Führung. Stimmungen wahrnehmen und gezielt beeinflussen, München 2018

Lohr, Jeffrey M./Olatunji, Bunmi/Baumeister, Roy/Bushman, Brad: The psychology of anger venting and empirically supported alternatives that do no harm, in: Scientific Review of Mental Health Practice 5 (1/2007), S. 53-64

Porath, Christine: Der unverschämte Kunde, in: Harvard Business Manager 34 (3/2023), S. 20-29


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